Doktorhut Radiophilosophie

 

Doktorhut für Rundfunkphilosophie

Im Verlaufe der nächsten fünf Jahre sammelte Szendrei als Funkdirigent Nr. l und musikalischer Oberleiter der MIRAG nicht nur eine Fülle an eigenen Erfahrungen, er publizierte sie auch in verschiedenen populärwissenschaftlichen und fachspezifischen Journalen. Die Quintessenz seiner Erfahrungen und Überlegungen stellte er in seiner 1929 an der Leipziger Universität eingereichten Dissertation „Rundfunk und Musikpflege“ dar. Im Jahre 1931 erschien sie im Verlag Kistner & Siegel unter dem gleichen Titel als Buch. In seine 1932 bei Breitkopf & Härtel erschienene „Dirigierkunde“ flössen viele Erkenntnisse aus diesen Untersuchungen ein. Fritz Reuter, der 1956 die dritte Auflage des Buches betreute und seinerzeit eine Rezension über Szendreis Dissertation veröffentlicht hatte, behielt das Kapitel „Rundfunkdirigent“ unverändert bei, obwohl Szendreis Ausführungen zum damaligen Zeitpunkt längst überholt waren und ihnen lediglich historischer Wert zukam.

Szendreis Promotionsschrift war die erste musikwissenschaftliche Dissertation, die musiksoziologische Untersuchungen an einem Zeitnahmen Stoff zum Inhalt hatte. Im ersten (historischen] Teil gibt Szendrei einen Überblick über die Entwicklung des Konzert- und Publikumbegriffs vom Altertum bis zur Gegenwart. Er zeigt anhand der kritischen Betrachtung der Funktionalität des Konzertes – und dies sowohl aus der Perspektive des Publikums wie der des Interpreten -, dass die wertvollste Musik, der musikalische Schatz der Nationen, innerhalb des bürgerlichen Konzertbetriebs im 19. Jahrhundert nur einer Minderheit der Bevölkerung zugänglich war. Im zweiten Teil der Arbeit entwickelt Szendrei vor dem Hintergrund der veränderten gesellschaftlichen Situation nach dem Ersten Weltkrieg die musiksoziologischen Aufgaben des Rundfunks, seine Funktion und seine Stellung innerthalb des gesamten Musikwesens.

Was die Aufgaben des Rundfunks betrifft, stellt er sie in ein gesamtgesellschaftliches Raster. Für Szendrei erhielten viele Bevölkerungsschichten vor allem in ländlichen Gegenden erst durch den Rundfunk die Chance, am kulturellen Reichtum der Nation zu partizipieren. Diesbezüglich spielte die Musik, die als „internationale Sprache“ von Anfang an den größten Raum im Sendeprogramm einnahm, eine führende Rolle. Szendrei führt an, dass die erste Aufgabe des Senders darin bestehe, „sich das unbedingte Vertrauen der Hörer zu sichern. Nichts konnte geeigneter dazu sein, als den Hörern, denen gerade Musik ein Bedürfnis war, die aber aus verschiedensten Gründen, seien es nun wirtschaftliche oder soziale, von dem Anteil an den großen künstlerischen Erlebnissen ausgeschaltet waren, nun mit einem Schlage zu gleichberechtigten Teilhabern an diesen geistigen Gütern zu machen.“

 

Die Universalität des Rundfunks ist für ihn dabei von größter Bedeutung. Rundfunk ist Spiegel der kulturellen Gesamtheit. Das Sendeprogramm versteht sich als Katalog, aus dem jeder nach seinem Gusto auswählen kann. Das sind Ansichten eines Radiofachmannes, die selbst heute – ein Menschenleben später – in jedem Vorwort zum Rundfunkprogramm stehen könnten.

Folgerichtig schreibt Szendrei: „Es liegt nicht im Wesen des Rundfunks und auch nicht in seiner Absicht, bei irgendeiner seiner Darbietungen sich an bestimmte Kreise zu wenden, es entspricht vielmehr vollkommen seiner Idee, ja es ist seine Grundhaltung, daß prinzipiell sämtliche Kulturgüter seinem gesamten Hörerkreis ohne Ausnahmen und Einschränkungen übermittelt werden müßten und könnten.“

Spätestens an dieser Stelle wird der innere Widerspruch in Szendreis Radiophilosophie offenbar. Wer einen pädagogisch intendierten Rundfunk präferiert, muß selbst unter den allgemeinsten, volkserzieherischen Aspekten einkalkulieren, dass ein gewisser Hörerkreis nicht oder nur in eingeschränktem Maße daran interessiert ist. Die absolute Menge dieser „Desinterssierten“ oder -moderner ausgedrückt – Nichthörer bleibt diffus. Selbst zeitgemäße Medienanalysen vermögen kein exaktes Bild über das wahre Konsumverhalten aller potentieller Rundfunkteilnehmer zu liefern. Demgegenüber entwirft Szendrei dann zugleich das Bild des „Alleskönners“ Rundfunk: Jede gesellschaftliche Strömung soll aufgesogen, jede Mehrheit und Minderheit zielgenau erfasst und über den Äther verbreitet bezeihungsweise vernetzt werden. Rundfunk als Spiegel der Nation, der prompt und mit seismographischer Genauigkeit auf jedwede Entwicklung reagiert. In letzter Konsequcnx würde sich der Rundfunk jeder eigenen Intendanz berauben und sich zum Spielball sämtlicher gesellschaftlicher Entwicklungen machen. Mehrheit und Massenwirksamkeit kontra Eigenprofil und Anspruch: ein unlösbarer Widerspruch, der auch unsere heutige Medienlandschaft prägt. Szendrei stellte sich einen Rundfunk vor, der nicht allein Musik verbreitet, sondern- lernwilliges Publikum vorausgesetzt – die Rezeption der Musik im Sinne eines wachsenden Musikverständnisscs beeinflusst. Keine „Rosskur“, soviel war klar. Das Ganze sollte zwanglos in kleinen, wohlportiomerien Schritten und kaum merklich für den Hörer passieren: „Was der Rundfunk aber kann, was er als unverrückbares Ziel stets vor Augen haben sollte, ist durch entsprechende pädagogische und massenpsychologische BÜdungs- und Erziehungsarbeit die allgemeine Musikalität, das Kunstverstehen und -empfinden weitester Kreise so zu heben, daß Empfangsbereitschaft und Verständnis für alle Kunsterscheinungen als allgemein vorausgesetzt werden können.“ Er führt weiterhin aus, dass zur Musikbildung (nicht: Musikausbildung) das Senden geeigneter verbaler Einführungen gehörte, die, weniger musikwissenschaftliche als allgemeine Zusammenhänge vermittelnd und solchermaßen auf das Wesentlichste beschränkt, den Hörern Orientierungshilfe im Wahrnehmen und Verstehen von Musik geben. Für besonders geeignet hält Szendrei in diesem Zusammenhang mehrteilige Sendungen, sogenannte Reihen. (Die Richtigkeit dieser Überlegung beweisen unzählige Sendereihen und in Einzelsendungen geteilte Großprojekte heutiger Radioprogramme – einschließlich dieser Darstellung!). Auch in puncto Dramaturgie entwickelt Szendrei in seiner Dissertation noch heute aktuelle Gedanken, wenn er schreibt: „Die größte Schwierigkeit der Programmgestaltung liegt darin, daß einerseits die Totale repräsentiert werden muß, andererseits zwangsläufig aus dem Fundus aller Musikwerke ausgewählt werden muß. Dieses Auswahlverfahren betrifft sowohl die Programmgestaltung im Großen (Gesamtprogramm) wie auch im Kleinen (Sendekonzerte). Bietet die Zusammenstellung des Programms für das öffentliche Konzert schon nicht geringe Schwierigkeiten und erfordert ein bedeutendes Maß von Kunstverstand und Verantwortungsgefühl, so treffen diese Forderungen für das Rundfunkprogramm, schon mit Rücksicht auf einen wesentlich erweiterten und noch keineswegs homogenen Hörerkreis in erhöhtem Maße zu. – Schon Kretzschmar sagt sehr zutreffend, daß die Güte eines Programms in dem geistigen Zusammenhang der zu Gehör gebrachten Werke läge und daß dieser Zusammenhang ebenso zwischen den Konzerten einer Saison wie zwischen den Nummern eines einzelnen Konzerts bestehen müsse. Diese Forderung gilt noch in erhöhtem Maße für das unendlich erweiterte Rundfunkprogramm.“ Besondere Aufmerksamkeit widmete Szendrei in seinen Ausführungen der Neuen Musik, denn „der Rundfunk hat die unbedingte Pflicht, über alle Erscheinungen, also auch über die neuesten Entwicklungsstadien der musikalischen Kunst entsprechend zu orientieren. Erfüllte der Rundfunk diese kulturelle Pflicht nicht, so begäbe er sich seines inneren Wertes und diente nur der Unterhaltung.“ Allerdings: Äußerungen über funkeigene Genres wie die Funkoper beziehungsweise funkmäßige Bearbeitungen auch seiner eigenen Oper „Der türkisenblaue Garten“ fehlen ebenso wie genaue Hinweise auf besetzungsspezifische Kompromisse im Sendeailtag Mitte der zwanziger Jahre. (Eine der ersten Funkopern war Gustav Kneips 1929 bekanntgewordene Oper „Christkinds Erdenreise“ sowie Werner Egks 1930 erschienene Oper „Trebitsch Lincoln“).

Welche klanglichen Merkmale Funkmusik zur damaligen Zeit hätte aufweisen müssen, deutet Szendrei ebenfalls nur an: „Gerade die moderne Musik hat in manchen ihrer Erscheinungen Eigentümlichkeiten, die sie für den Funk als sehr geeignet erscheinen lassen; wir meinen hier z.B. die durch Bevorzugung linearer Arbeit ermöglichte Durchsichtigkeit der Musik und ihres Klangbildes. Es gibt aber ebensoviele Werke, deren ganze Struktur und vor allem harmonisches Gefüge für den Funk vorerst wenig oder gar nicht geeignet erscheinen.“

Der erste Gbertragungsversuch der MIRAG im Jahre 1925 aus der Kongreßhalle des Leipziger Zoos.
Die beiden Mikrophone hängen vor dem Orchester.
Abbildung aus der Zeitschrift „Welt im Bild“

Der MIRAG-Vorstand mit dem Kapellmeister und Chef der Musikabteiiung Alfred Szendrei, dem Journalisten und Chef der literarischen Abteilung Julius Wille und dem Gründungsintendanten Erwin Jaeger (r.) im Besprechungsraum der Leipziger „Alten Waage“
Foto nach 1924 • Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt/Main • Historisches Archiv der ARD

Das Leipziger Sinfonie-Orchester mit Alfred Szendrei

zum Konzert in der Alberthalle des Leipziger

Krystallpalastes

Fotografie Mitte der zwanziger fahre MDR Orchesterarchiv

Titelseite der Dissertation Alfred Szendreis, erschienen im Verlag Kistner & Siege! 1931

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