Gruendung Leipziger Orchestergesellschaft
Die Gründung der Leipziger Orchester-Gesellschaft
Erst zwei Jahre später, gegen Ende des Jahres 1922 und nach langwierigen Verhandlungen, war eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung der Orchesterfrage in Sicht. Das neue Ensemble sollte als Mietorchester allen Konzertveranstaltern außerhalb des Gewandhauses zur Verfügung stehen, und daneben Opernaufführungen im Neuen Theater übernehmen. (Letzteres unterstreicht, dass die Opernvertretungen durch das Philharmonische Orchester L’hermets nicht in der gewünschten Qualität vonstatten gingen.) Nicht nur, dass sich damit die Reisekosten für auswärtige Orchester einsparen ließen, auch die profitable Auslastung des Orchesters bei Inanspruchnahme durch alle Veranstalter rückte in greifbare Nähe.
Im Ergebnis der Verhandlungen wurde schließlich am 6. Januar 1923 die „Leipziger Orchester-Gesellschaft m.b.H.“ gegründet. Ihr Zweck bestand darin, ein künstlerisch hochwertiges Orchester aufzustellen und zu unterhalten. Das Unternehmen arbeitete gemeinnützig, die Gewährung von Zinsen oder Gewinnanteilen war satzungsgemäß ausgeschlossen, der Aufsichtsrat ehrenamtlich eingesetzt. Die Gesellschaft trat zudem nicht selbst als Veranstalter auf, sondern vermietete das Orchester lediglich an die der Gesellschaft angeschlossenen Institutionen. Diesen oblag die konkrete Programmgestaltung und Organisation der Konzerte.
Mehr als die Hälfte der insgesamt dreizehn Gesellschafter waren Unternehmer, drei von ihnen Pianofortefabrikanten (Blüthner, Feurich, Irmler), einer Musikverleger (Breitkopf & Härte!), einer Konzertagent (Schubert). Die musikalische Fachwelt war vertreten durch Sträube und Krehl.
In der folgenden Zeit wurde das „Leipziger Sinfonie-Orchester“ (LSO) mit zunächst 44 Musikern aufgestellt, wobei sich aufgrund fehlender Probenlisten nicht exakt nachweisen lässt, aus welchen ehemals vorhandenen bzw. noch bestehenden Ensembles die Musiker stammten oder von welchen Orten sie zureisten. Außerdem engagierte die Gesellschaft einen Orchesterdiener, dazu nebenamtlich einen „musikalischen Erzieher“ (Dirigenten) und einen Geschäftsführer. Der Kostenersparnis halber übernahm das Messeamt einen Teil der Verwaltungsarbeiten.
Dass das Philharmonische Orchester aller Wahrscheinlichkeit nach – vielleicht auch mit Unterbrechungen – bis in die dreißiger Jahre parallel zum LSO existierte, wurde bereits erwähnt. Einzig die „Zeitschrift für Musik“ bringt in ihrer Januarausgabe von 1923 die Krise des von Hans L’hermet geleiteten Philharmonischen Orchesters mit der Gründung des LSO in Verbindung: „Zur Erhaltung dieses vor die Existenzfrage gestellten (Philharmonischen) Orchesters hat sich eine Gesellschaft m.b.H. herausgebildet, der zunächst hervorragendste Vertreter der Leipziger Klavier- und Musikindustrie angehören. Es soll aber auch versucht werden, die übrige Industrie, insbesondere die großen Leipziger Musikverlage, zum Eintritt in die Gesellschaft zu gewinnen.“
Zugleich plante die Orchester-Gesellschaft, einen neuen Dirigenten für das LSO zu benennen. Wenn aber möglicherweise ein Großteil der Musiker des wieder einmal in Auflösung befindlichen Philharmonischen Orchesters ins LSO überwechselten, die Leitung dieses Orchesters aber einem anderen Dirigenten als L’hermet übertragen werden sollte, ist dessen Verärgerung nur zu verständlich. Ein Streit um den Dirigentenposten entbrannte und die „Zeitschrift für Musik“ teilte im gleichen Heft mit: „Wir zweifeln nicht, daß der Vorstand, dem auch Musiker wie Prof. Krehl und Sträube angehören, eine geeignete Wahl treffen wird. – Wie wir soeben erfahren haben, ist Emil Bohnke (Berlin) zum Ersten Dirigenten gewählt worden.“
BARNET LICHT
Von 1911-1933 Leiter des Leipziger Arbeiter-Bildungs-
Instituts und Dirigent der Lichtschen Chöre
Sammlung Lieberwirth
Bei Abschluss des Gründungsvertrages trugen sich folgende Personen als Gesellschafter der Leipziger Orchester-Gesellschaft ein:
Dr. Guido Barthol,
Vorsitzender des Aufsichtsrates,
Dezernent des Musikamtes der Stadt Leipzig
Dr. Robert Blüthner, Firma Julius Blüthner
Kurt Drösser, Schatzmeister der Philharmonischen Gesellschaft
Kommerzienrat Hermann Feurich, Firma Feurich
Dr. Hellmuth von Haase, Firma Breitkopf S Härtel
Emil Irmler, Firma Irmler
Sanitätsrat Dr. Max Kormann, Philharmonische Gesellschaft
Prof. Stephan Krehl, Direktor des Landeskonservatoriums
Reinhold Schubert, Konzertdirektion Schubert
Prof. Dr. Karl Sträube, Thomaskantor
Arndt Thorer, Firma Theodor Thorer
Curt Weichelt, Firma Meyer & Weichelt
Handelsgerichtsrat Paul Zenker
Der Orchester-Gesellschaft schlössen sich folgende Institutionen an:
Philharmonische Gesellschaft
Leipziger Singakademie
Verein Deutsche Bühne
Arbeiter-Sängerbund
Universitätssängerschaft St. Pauli
Leipziger Konzertverein
Arbeiter-Bildungs-lnstitut
Riedel-Verein
Leipziger Lehrer-Gesangsverein Städtische Bühnen Leipzig
Gründungskonzert und erste Konzertsaison
Die Februarausgabe der „Zeitschrift für Musik“ 1923 bringt Gewissheit:
„Der junge Führer des Leipziger Sinfonie-Orchesters – so nennt sich jetzt nach der Palastrevolution und gewaltsamen Abschüttelung Hans L’hermets der Trümmerhaufen‘ des ehemaligen Philharmonischen Orchesters -, Emil Bohnke, stellte sich seine erste offizielle Aufgabe im Rahmen der philharmonischen Konzerte vor ausverkaufter Alberthalle nicht eben leicht: einen sehr glücklich auf den tragischen Grundton dieser düsteren Tage abgestimmten Brahms-Abend mit Tragischer Ouvertüre, Erstem Klavierkonzert und Erster Sinfonie. Wie vorauszusehen, reichte das Material des im übrigen mit vollster Hingebung und sehr schönem künstlerischem Erfolg spielenden Orchesters teilweise, vor allem bei den Bläsern und Holzbläsern,
dafür noch nicht annähernd aus.“ Bohnke erhielt das Lob, dass vor allem der rhythmisch straffe Zug des Dirigenten bei der Erziehung des darin arg vernachlässigten Orchesters entscheidende Dienste tun werde.
De facto wurde das LSO mit Gründung der Leipziger Orchester-Gesellschaft am 6. Januar 1923 ins Leben gerufen. Gemeinsam mit dem ersten Chefdirigenten, Emil Bohnke, übernahm das Ensemble im ersten Halbjahr 1923 die Aufgaben des Philharmonischen Orchesters. Das betraf sowohl die Sinfoniekonzerte in der Alberthalle als auch die Operndienste.
Der Kapellmeister, Komponist und Bratscher Emil Bohnke, 1888 in Zdunska Wola geboren, war Schüler Hans Sitts und kam Anfang der zwanziger Jahre nach Leipzig. Er war in der Hauptsache am Neuen Theater verpflichtet. 1926 wurde Bohnke zum Leiter des Berliner Sinfonieorchesters berufen. Er kam 1928 bei einem Autounfall in der Nähe von Pasewalk ums Leben.
Trotz der verschiedenen Verpflichtungen im Konzertbetrieb Leipzig geriet das LSO gegen Ende der Spielzeit (Juni 1923) in eine prekäre Lage. Offensichtlich fiel die finanzielle Unterstützung seitens der Sponsoren zu gering aus, doch wegen der katastrophalen allgemeinen Wirtschaftslage (Inflation) war der Bestand vieler kultureller Einrichtungen – darunter auch so traditionsreiche wie das Landeskonservatorium (Musikhochschule) und das Variete im Krystallpalast – gefährdet. Den enormen Geldverfall illustriert beispielsweise eine Werbung des Vereins Deutsche Bühne für den 26. März 1926. Das (verstärkte) LSO unter Leitung von Walter Stöver wurde mit Werken von Joseph Haydn (2. Londoner Sinfonie), Hermann Götz (aus: „Der Widerspenstigen Zähmung“), Carl Maria von Weber (aus: „Der Freischütz“) und Johannes Brahms (4. Sinfonie) angekündigt. Die billigsten Karten kosteten 500, die teuersten 5000 Mark.
Für die Dauer der Saisonpause löste sich das Orchester – wie alle seine Vorgänger – auf. Trotz aller Schwierigkeiten begann Paul Pirrmann im Herbst 1923 mit der Probenarbeit. Inwieweit er Bohnke als Leiter ablöste, ist unklar.
Pirrmann, 1872 in Quedlinburg geboren, wirkte nach Studien am Leipziger Landeskonservatorium als Konzertmeister und Solist in Russland und in der Schweiz. Von 1901 bis 1914 war er zweiter Kapellmeister des Winderstein-Orchesters, daneben bis 1924 Dirigent des Kurorchesters Friedrichroda. Während des Weltkrieges leitete er verschiedene Militärkapellen. Die Position des geschäftsführenden Kapellmeisters bzw. des Geschäftsstellenleiters des LSO hatte er bis zu seinem Tode im Jahre 1931 inne.
Während der Spielzeit 1923/24 veranstalteten die in der Orchester-Gesellschaft organisierten Vereinigungen insgesamt 10 Konzerte. Drei davon dirigierte der Münchener Franz von Hoesslin. Franz von Hoesslin war Schüler Max Regers und Felix Mottls. Er wirkte in verschiedenen Orten Deutschlands, ab 1926 als Generalmusikdirektor in Barmen Ellerfeld, ab 1932 als Leiter der Oper in Breslau. 1936 ging er in gleicher Funktion nach Marseille. Ein Jahrzehnt später kam Hoesslin bei einem Flugzeugunglück ums Leben.
Ein Konzert leitete der aus St. Petersburg stammende Schüler Glasunows Efrem Kurtz. Bekannt wurde er als Dirigent der Ballets Russes de Monte Carlo (1933 – 1942) und verschiedener amerikanischer Orchester. Mit Max Ludwig (vier Konzerte) und Heinrich Laber (zwei Konzerte) wurden weitere Dihgentenpersönlichkeiten gewonnen. Leider konnte es aufgrund fehlender Dokumente nicht gelingen, die Programme dieser für den Fortbestand des Orchesters entscheidenden Saison (19237 1924) vollständig zu rekonstruieren. Das Programmheft des dritten Konzertes nennt die Aufführung der Großen Messe in c-Moll von Wolfgang Amadeus Mozart, übrigens gegen den Eintrittspreis von 10 Goldpfennigen.
Durch eine Reihe außerordentlicher Maßnahmen der Regierung Stresemann (Reichskanzler von August bis November 1923, Außenminister bis 1929) stabilisierte sich die Währung. Der US-Dollar hatte zuvor den Wert von 4,2 Billionen Reichsmark erreicht. Parallel zur Neuordnung der Finanzen trat eine allmähliche Verbesserung der allgemeinen Wirtschaftslage in Deutschland ein. Die Einführung der Rentenmark zwang aber viele kulturelle Einrichtungen noch stärker als bisher zu sparen.
Auch das LSO war durch die Einnahmen aus den Konzerten keinesfalls finanziell gesichert. Im Gegenteil, alle Konzerte der Saison schlössen mit einem Defizit und das, obwohl so viele Institutionen der Orchester-Gesellschaft angehörten und den Klangkörper mieteten. Eine verhältnismäßig stabile Einnahmequelle boten dagegen die Operndienste. Neben dem Ersten Kapellmeister der Leipziger Oper, Alfred Szendrei, dirigierten vor allem Paul Weißleder, Leo Hochkofler und Emil Bohnke das LSO zu Opernaufführungen.
Szendreis Sechs-Punkte-Plan
Scheinen die Gesamteinnahmen im Winterhalbjahr wenigstens einigermaßen die Kosten gedeckt zu haben, so stand gegen Ende der Saison wieder einmal die Auflösung des Orchesters bevor. Kompliziert wurde die Situation noch durch die soziale Lage der Musiker. Sie waren nur saisonal engagiert, besaßen also keine Jahresverträge. Verständlich, dass sie sich deshalb nicht nur nach einem Sommerengagement umsahen, sondern mit Blick auf die nächste Spielzeit nach einem sozial besser gestellten, dauerhaften Engagement Ausschau hielten.
Gegen Ende der Spielzeit 1923/24 bemühte sich Alfred Szendrei, seit 1918 Erster Kapellmeister an Leipzigs Oper, das LSO in Form eines Genossenschaftsorchesters zu erhalten. Was war der Unterschied zur bisherigen Existenzform als Orchester der Leipziger Orchester-Gesellschaft?
Auskunft darüber gibt ein Sechs-Punkte-Programm, welches Szendrei während einer Beratung mit Barnet Licht, dem Vertreter der Orchester-Gesellschaft, am 18. August 1924 erarbeitete:
- Die Orchestermitglieder beabsichtigen, ein Genossenschaftsorchester in Stärke von mindestens 40
Mann aufzustellen. Die Aufnahme in dieses Orchester darf nur erfolgen, nachdem eine Sachverständigen
kommission, der keine Genossenschaftsmitglieder angehören dürfen, die künstlerische Eignung des
Musikers bestätigt hat. Die Kommission wird von der Orchester-Gesellschaft bestimmt. - Die Orchester-Gesellschaft wird die Orchestergenossenschaft nach Möglichkeit fördern.
- Die Orchester-Gesellschaft wird dem Orchester die Führung des Names Leipziger Sinfonie-Orchester
- Das Orchester verpflichtet sich, immer als geschlossenes Ganzes aufzutreten. Die einzelnen Mitglieder
können zwar, soweit sie nicht im Orchester beschäftigt sind, Privattätigkeit ausüben, aber keinesfalls in
einem anderen Orchester allein oder mit anderen Genossenschaftsmitgliedern mitwirken. - Die Orchester-Gesellschaft stellt im Einvernehmen mit der Genossenschaft einen künstlerisch
geeigneten Erzieher, dem sich das Orchester wöchentlich zweimal für drei Stunden zu Proben ohne
Entschädigung zur Verfügung stellt. - Die Disziplinargewalt des Erziehers und die sonstige Dienstordnung sind für das Orchester besonders
zu regeln.
Szendrei kam es vor allem darauf an, den inneren Zusammenhalt des Ensembles zu stärken. Aber auch Rahmenbedingungen für Qualitätssteigerungen kamen zur Sprache. Dass sich Szendrei selbst die Rolle des Erziehers zudachte, ist plausibel. Immerhin kannte er das Leistungsniveau des Ensembles von den regelmäßigen Opernproben und -aufführungen und konnte demzufolge abschätzen, welche Maßnahmen zur Verbesserung desselben nötig waren. Ob Szendrei, als er im Sommer 1924 die Leitung des Genossenschaftsorchesters übernahm, an künftige Entwicklungsperspektiven des Rundfunks und daraus resultierende Einsatzmöglichkeiten eines Orchesters in sinfonischer Besetzung dachte, lässt sich nicht beweisen. Die folgenden Ereignisse bestätigen diese Annahme jedoch in hohem Maße.
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