Ein zweites Konzertorchester fuer Leipzig
Ein zweites Konzertorchester für Leipzig
Die Debatte über ein zweites Orchester wurde aus denkbar unterschiedlichen Positionen geführt: Die Stadt Leipzig sah sich 1919 außerstande, neben dem Gewandhausorchester ein weiteres Ensemble zu unterhalten oder auch nur nennenswert zu subventionieren. Die Konzertveranstalter waren uneins, potentielle Mäzene übten begreiflicherweise Zurückhaltung (die Pleitequote früherer Ensembles mahnte zur Vorsicht), und die Publizisten steuerten wenig realitätsnahe Konstrukte bei.
Da war zum Beispiel der Musikkritiker Adolf Aber, der seine Position in zwei Artikeln der „Leipziger Neuesten Nachrichten“ (1919/20) darlegte.
Darin schlägt er vor, ein Sinfonieorchester (Gewandhausorchester) und ein Theaterorchester in strikter Trennung der jeweiligen Aufgabenbereiche zu unterhalten. So würde die tägliche Bespielung der Oper möglich, was bislang an den Konzerttagen des Gewandhauses nur ersatzweise von einem anderen Orchester übernommen wurde. Er kompliziert die Sachlage jedoch schließlich mit der Überlegung, das Personal beider Ensembles zu mischen, um ein gleichmäßiges künstlerisches Niveau zu garantieren.
Andere Überlegungen gingen dahin, ein zweites Orchester für populäre Konzerte, Chorkonzerte und Vertretungen in der Oper zu gründen. Die Schaffung eines zweiten städtischen Orchesters schien die beste Lösung des Problems zu sein. Jedenfalls beherrschte dieser Gedanke die öffentliche Meinung und die Presse.
Die beiden größten Autoritäten des Leipziger Musiklebens hielten jedoch wichtige Argumente dagegen: Thomaskantor Karl Straube betonte die Unantastbarkeit des Bestandes des Gewandhausorchesters und seiner historisch gewachsenen Wirkungsbereiche Oper, Gewandhaus und Kirchen (St. Thomas und St. Nikolai). Auch Gewandhauskapellmeister Arthur Nikisch plädierte für die Universalität des Orchesters, weil es den Künstlern ein Bedürfnis sei, „der Monotonie des Opernspielens ein Gegengewicht im Spielen klassischer Konzertmusik zu bieten“ und betonte, welch künstlerischen Vorteil die gleichzeitige Ausbildung der Musiker im Opern- und Konzertdienst bedeute.
Straube präzisierte den Gedanken mit dem Hinweis auf eine mögliche Vergrößerung des Stadtorchesters.
Er schlug vor, die Mitgliederzahl von 104 (1920) auf 160 zu erhöhen und „aus dieser Organisation das Gewandhausorchester herauszubilden, das in sich unangerührt (!) bleibt und bei Vakanzen aus den besten Musikern des Gesamtorchesters ergänzt wird. Damit würde der orchestererzieherisch nicht hoch genug zu bewertende Vorteil erreicht, daß die jüngeren Kräfte von der Tradition eines berühmten alten Orchesters aufgenommen werden, daß alle Mitglieder in ihren Leistungen sowohl für die dramatische wie für die symphonische Kunst ausgebildet werden. Der wechselnde Dienst auf beiden Gebieten würde anregend wirken und eine Ermüdung durch die Gleichförmigkeit der Arbeit würde weniger leicht eintreten.“
Dazu konstituierte sich indessen im April 1920 ein „Ausschuß zur Gründung eines zweiten Orchesters“, dem Justitzrat Lebrecht als Vertreter des Leipziger Konzertvereins, Geheimrat Hinrichsen, Sanitätsrat Dr. Korman (Philharmonische Gesellschaft), Zoodirektor Dr. Gebbing, Konzertagent Dr. Eulenburg, Barnet Licht (Arbeiter-Bildungs-lnstitut) sowie der Musikkritiker Dr. Adolf Aber angehörten.
Sie berieten in einer Sitzung am 14. April 1920 eingehend über die Finanzierungsmöglichkeiten des zu gründenden Orchesters und kamen zu dem Schluss, „daß das neue Orchester lebensfähig ist, wenn ein Stamm von zirka 25 000 bis 30 000 Abonnenten auf volkstümliche Sinfoniekonzerte geworben werden kann. Die Aussichten dafür sind ungewöhnlich günstig, da sowohl die Gewerkschaften mit ihren 150 000 Mitgliedern, wie auch die Volksbühne mit ihrer großen Abonnentenzahl unter bestimmten Bedingungen ihre Beteiligung in Aussicht gestellt haben.“
Ob hinsichtlich des neu zu gründenden Orchesters an das bereits bestehende Philharmonische Orchester gedacht war, dessen Existenz nach wie vor „wackelte“, oder ob eine völlige Neuaufstellung beabsichtigt war, geht aus dem zitierten Schreiben nicht hervor. Dieser Rundbrief an potentielle Mäzene und Abonnenten hatte den Zweck, die finanziellen Mittel, gewissermaßen das Startkapital zum Unterhalt des neuen Orchesters, zu sichern.
Aus Sicht der Abonnenten wäre das jedoch eine Investition ins Ungewisse gewesen. Schließlich war weder genaueres über die künftigen Qualitäten des Orchesters noch über die Programmgestaltung bekannt. Dieser Schwierigkeiten war sich die Kommission wohl bewusst, als sie – um dem Aufruf mehr Reputation zu verschaffen – angesehene und hochstehende Persönlichkeiten um Beistand bat.
Es lässt sich heute nicht mehr genau verfolgen, inwieweit der Ausschuss Reaktionen auf den Aufruf erhielt. Sicher ist lediglich, dass das Ziel, nämlich eine pekuniäre Basis für ein neues Ensemble zu schaffen, nicht erreicht wurde.
Sorry, the comment form is closed at this time.